DStR Deutsches Steuerrecht | 2018
Peter W. Plagens und Dr. Dennis J. Hartmann
Durch die seit 2005 gefestigte Rechtsprechung der Zivilsenate des BGH, ist die Neuausrichtung des Begriffes der Zahlungsunfähigkeit gem. § 17 InsO weitgehend abgeschlossen. Das letzte Urteil des II. Senats vom 19.12.2017 hat hierzu durch die Klarstellung zur Einbeziehung der sog. Passiva II wesentlich beigetragen. Für die Praxis ergeben sich jedoch gleichwohl noch offene Fragen, insbesondere im Vergleich zur Berechnungsmethode zum IDW S 11.
Nachstehend wird der Versuch unternommen, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Rechenwege zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit darzulegen und unter Anwendung von mathematisch ausgerichteten Algorithmen die retrograde Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit auf den frühestmöglichen Zeitpunkt abzubilden.
Problemstellung
Aufgrund der Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH vom 19.12.2017 (BGH II Zr. 88/16) ist nunmehr klargestellt worden, dass bei der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO bei der Berechnung der Liquiditätslücke neben der sogenannten Aktiva I und Passiva I (Stufe I) in der Stufe II neben den Aktiva II nunmehr auch die Passiva II zu berücksichtigen sind. Dies ergibt sich aus dem zweiten Leitsatz der o. a. Entscheidung. Das Interessante daran hier ist, dass die Entscheidung nicht vom IX. sondern vom II. Zivilsenat des BGH getroffen wurde und dieser im Laufe der Urteilsbegründung ausführt, dass sich seine Ansicht zur Einbeziehung der Passiva II in die Ermittlung der Liquiditätslücke auf Stufe II nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des BGH befindet und im Übrigen auch nicht zu den Strafsenaten des BGH. Somit ist davon auszugehen, dass der II. Zivilsenat im Vorfeld eine entsprechende Abstimmung innerhalb des BGH-Kollegiums herbeigeführt hat.
Wichtig dürfte in diesem Zusammenhang ferner sein, wie sich diese Rechtsprechung nach dieser „Klarstellung“ nunmehr tatsächlich auf die Berechnung der Liquiditätslücke gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO auf den Stufen I und II auswirkt und – was auch von besonderem Interesse sein dürfte – ob diese nunmehr vorliegende Rechtsprechung ohne weiteres kompatibel zu den Ausführungen im IDW S 11 zur Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen mit dem Stand vom 29.01.2015 ist, der somit vor der zuletzt genannten BGH-Entscheidung vom IDW veröffentlicht wurde.
Neben diesen allgemeinen Erörterungen, die insbesondere für die Ermittlung der prospektiven Zahlungsunfähigkeit von Bedeutung sein dürften, erhebt sich aber auch die Frage, in wie weit sich Auswirkungen auf die Ermittlung der retrograden Zahlungsunfähigkeit ergeben, insbesondere im Lichte der zunehmenden interessanteren Möglichkeiten durch eine Massendatenanalyse aufgrund der gesicherten Datenbestände der Finanzbuchhaltung bzw. des gesamten kaufmännischen Rechnungswesen durch den Insolvenzverwalter zurückzugreifen. In diesem Zusammenhang haben sich nunmehr Möglichkeiten ergeben, durch Einsatz nach mit mathematischen Prinzipien definierten Algorithmen auf die Datenbestände der Finanzbuchhaltung die Ermittlung der retrograden Zahlungs-unfähigkeit auf zurückliegende Jahre, gemessen zum Antragszeitpunkt zur Insolvenzeröffnung zurückzugreifen.
Damit dürfte die Ermittlung der retrograden objektivierten Zahlungsunfähigkeit für den zurückliegenden Zeitraum, nach dem hier vorzustellenden Modell – entsprechende Sicherung der Datenbestände vorausgesetzt – künftig möglich sein. Die zum Teil durch die Rechtsprechung entwickelten, oftmals nicht präzisen Indikationen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit zum spätesten Zeitpunkt vor dem Antrag auf Stellung des Insolvenzeröffnungsantrages, könnte damit durch eine weitaus systematischere und in einem hohen Maß sichere Ermittlungsmethode ersetzt werden, die nicht den spätesten, sondern den frühsten Zeitpunkt der tatsächlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit ermittelt.
Sofern diese Erkenntnisse zur Ermittlung der frühesten objektiven Zahlungsunfähigkeit aus Sicht der insolventen Gesellschaft darüber hinaus kombiniert werden mit einem Screening / Matching des kaufmännischen Schriftverkehrs (hier insbesondere des E-Mail-Verkehrs), die die Insolvenzschuldnerin mit den Gläubigern geführt hat, ergibt darüber hinaus auch eine Auswertungsmöglichkeit, um Anfechtungsansprüche nach § 133 InsO durch den Insolvenzverwalter aufzugreifen und durchzusetzen.